Kader Attia: Die Zukunft liegt in der Vergangenheit

Rückblick auf die Ausstellung Remembering the Future. Kunsthaus, Zürich, 21. August 2020 – 15. November 2020

Aldir PolymerisHochschule der Künste Bern HKB

Abbildung 1: Kader Attia, Installationsansicht von Indépendence Tchao (2014), Kunsthaus Zürich 2020. Foto: Autor.

 

Die Ausstellung Remembering the Future (21. August 2020 – 15. November 2020) von Kader Attia im Kunsthaus Zürich ist seine erste Ausstellung in der Deutschschweiz und wohl eine seiner bislang grössten. Darin zeigt der 1970 geborene und zwischen Paris und Algiers aufgewachsene Künstler Werke unterschiedlicher, meistens sich vermischender Genres und Medien, die alle durch eine installative Qualität auffallen – einen Raum einnehmend, eine Idee oder Problematik eröffnend. Nicht anders die Videoinstallation "Les entrelacs de l’objet" (2020), die Attia für Remembering the Future geschaffen hat. Laut der Kunsthaus-Homepage geht die Arbeit auf die "aktuell viel diskutierte Frage der ‘Restitution’ nicht-westlicher, insbesondere afrikanischer Artefakte" ein und kann somit als eine Bestätigung der Relevanz von Attias Schaffen (auch hier, auch für uns) verstanden werden. Ob damit Attia, dieser "artiste du contexte", zum richtigen Gespräch eingeladen wurde, nämlich einem das hiesig genug und spezifisch genug gewesen wäre, um das Publikum auch wirklich zu betreffen, sei dahingestellt. Das Kunsthaus jedenfalls scheint von seiner Kunst nicht betroffen zu sein, es gibt keine Anzeichen für eine Dekolonisierung des Museums – alles steht noch und es steht am gleichen Ort. Keine Transformation in Sicht – im Gegenteil: Die Institution geht routiniert vor und macht mit dem Künstler und seiner Kunst das, was ihr Wesen ihr diktiert und ihr Stand ihr erlaubt: Sie macht sichtbar und sie krönt und kürt, indem sie aufnimmt. Die Ausstellung kommt einer Retrospektive weit näher als den im Titel involvierten Zeitlichkeiten – etwas das nicht schlecht sein muss: Zum Zurückschauen gibt es mehr als genug. In Zeiten dekolonialer Revisionen und Wiedererwägungen haftet der Beschäftigung mit der Zukunft etwas von einem unangebrachten Privileg an: Wessen Zukunft, eingebettet in welcher Geschichtsschreibung?

Nun, vielleicht liegt die Zukunft ja in der Vergangenheit. Dazu eine kurze Erzählung: Zur Zeit der Ausstellung waren Besucherinnen und Besucher, kurz nach ihrem Eintritt in den für Attia reservierten Flügel im Erdgeschoss des Kunsthauses, mit der Frage konfrontiert, welchem Weg sie folgen sollten. Bogen sie nach rechts ab, kamen sie in einem Raum, in dessen Mitte prominent eine Art Modellhochhaus prangte. Es ist anzunehmen, dass Besucherinnen und Besucher einen Moment lang eingenommen waren vom Anblick dieser Skulptur mit dem Titel Indépendence Tchao (was ist es genau? Ist "Modell" die richtige Bezeichnung dafür?).

Die Skulptur ist aus sieben mal vierzehn umgedrehten und aufeinandergetürmten Karteikästen gebaut. Sie wirkt durch die Wiederholung des immer gleichen Elements – und dessen entschlossene Funktionalität und schlichten Orthogonalität, die, wagemutig und einladend zugleich, von zwei Diagonalen gebrochen wird, welche die Öffnung des Kastens bilden – seltsam modern, was nicht "von heute" bedeutet, sondern, eben, von gestern. Modern heisst hier aus einer Zeit, in der man an Fortschritt geglaubt hat.

Abbildung 2: Kader Attia, Indépendence Tchao (2014), Kunsthaus Zürich 2020. Foto: Autor.
 

Indépendence Tchao ist eine Reinterpretation, ein Modellhochhaus des Dakarer Hôtel de l’Indépendance, das in den 60er Jahren gebaut wurde und ein Symbol für ein modernes und unabhängiges Senegal sein sollte. "Ein Totem für einen unerfüllten Traum", sagt Ugochukwu-Smooth C. Nzewi, Kurator der Dakar Biennale von 2014, wo die Arbeit zum ersten Mal gezeigt wurde. Ein Traum der Vereinheitlichung und Technisierung, der, als er noch geträumt wurde, schon persifliert wurde, wie die Werbeplakate in einem Pariser Reisebüro in Jacques Tatis Film Playtime aus 1967 bezeugen. (Wollen Sie nach Mexico, Hawaii oder in die USA? Das immer selbe Hochhaus wird Sie da erwarten. Architektur ist universell geworden, überall sieht es gleich aus und warum auch nicht, wenn man sich im Wissen wähnt, herausgefunden zu haben, wie der Mensch leben soll?)

Abbildung 3: Jacques Tati, Platytime (1967), Einzelkader, 00:43:33.
 

Und modern heisst ebenfalls einordnend, systematisierend, wissenschaftlich. "Dieses Manie der Ordnung, diese Manie der Typologie" sei, so Abdelkader Damani, der ebenfalls als Kurator der Dak'Art 2014 fungierte, prägend für sowohl das Modellhochhaus als Ganzes wie auch für dessen einzelne Bauteile, die Karteikästen: Ersteres ist ein Abbild eines Gebäudes, das Wahrzeichen eines Zustands sein will (ein unabhängiges und modernes Senegal, geformt nach dem Vorbild der Kolonisatoren), das nie wirklich erreicht wurde. Letztere sind Aufbewahrungsort eines abstossenden Zeitvertreibs, dem sich der algerische Geheimdienst in aller Modernität (zielführend, rational, exzellent) hingab: Dem Sammeln von Informationen über Dissidentinnen und Dissidenten. 

Die Bilder und Schaukästen, die sich in der Zürcher Ausstellung mit Indépendence Tchao einen Raum teilen (in der Dak'Art Biennale stand die Skulptur in einem anderen Zusammenhang – ohne Vitrinen, zusammen mit anderen Bildern) sprechen eine klare Sprache und problematisieren zugleich die Schlüsse, die sich aus der Skulptur alleine ziehen liessen: Sie scheinen, wie Abdelkader Damani, sagen zu wollen: Ja, "der Unabhängigkeits-Traum der afrikanischen Länder war das Erreichen der Modernität", dieselbe Modernität die "am Anfang der Kolonisation stand", doch was stand am Anfang der Moderne? Woran orientierte sich z.B. Le Corbusier? Wie weiss war die Moderne? Die Schaukästen unterstreichen diese Aussagen mit weiteren Informationen und Dokumente – typisiert und geordnet, der Sprache des Westens mächtig. Macht es euch nicht so einfach, scheinen sie zu sagen, um dann zu fragen: Wessen Vergangenheit, eingebettet in welcher Geschichtsschreibung?

Abbildung 4: Kader Attia, Modern Architecture Genealogy, Kunsthaus Zürich 2020. Foto: Autor.
 

Aber unabhängig davon bleibt die Frage offen, wie sich diese Verschränkung von Universalismus und Normierung (für die Indépendence Tchao eine treffende Verkörperung darstellt) auf Gesellschaften und Individuen, die sie zu normieren versucht, auswirkt. Welchen Einfluss hatten z.B. grosse Sozialwohnungsprojekte wie die, die in der Zeit als Playtime uraufgeführt wurde und als Kader Attia geboren wurde in der Peripherie Paris' errichtet wurden, auf das Zusammenleben der Menschen in einer Gesellschaft, die von der kolonialen Präsenz in zahlreichen Ländern und folglich von der Einwanderung von Angehörigen ebendieser Staaten geprägt war? Vielleicht fanden Besucherinnen und Besucher von Remembering the Future gewisse Antworten auf diese Fragen, wenn sie Indépendence Tchao hinter sich liessen und weiterschritten in den nächsten Raum.

Bibliografie

Janser, Daniela, "Die Kunst der Vernarbten Zonen" hingewiesen. In: Woz [die Wochenzeitung], Nr. 39, 24. September 2020, S. 23.

Marie, Laurent, "Jacques Tati’s Play Time as New Babylon" in Cinema and the City: Film and Urban Societies in a Global Context, Blackwell, 2001.

Ugochukwu-Smooth C. Nzewi & Beth Hinderliter, "PRODUCING THE COMMON,  DAK’ART 2014, Ugochukwu-Smooth C. und Tobias Wendl, Abdelkader Damani talks about Kader Attia's Indépendance Tchao, Freie Universtität Berlin, Kunsthistorisches Institut, Abteilung Kunst Afrikas – Medienlabor, 2016.

Ugochukwu-Smooth C. Nzewi & Beth Hinderliter, "PRODUCING THE COMMON,  DAK’ART 2014, Ugochukwu-Smooth C. Nzewi in Conversation with Beth Hinderliter" in Journal of Contemporary African Art, Nr. 36, May 2015, S. 90.

Wendl, Tobias, Abdelkader Damani talks about Kader Attia's Indépendance Tchao, Freie Universtität Berlin, Kunsthistorisches Institut, Abteilung Kunst Afrikas – Medienlabor, 2016, 00:29, Online (aufgerufen: 20. Nov 2020).

Biografie

Aldir Polymeris is a video artist and performer increasingly active in the field of cultural mediation. He grew up in Chile and Switzerland, and after a year of ethnology at the Universidad de Concepción, studies art and art history at the Bern University of the Arts. With his company Trop cher to share, he regularly creates and performs pieces, most recently "Wallmapu ex situ", a series of online video conferences dealing with the (post)colonial entanglements of Switzerland in southern Chile. Polymeris is co-founder of the Ateliergemeinschaft Schwobhaus (Bern) and recently joined the Art Commission of the City of Bern.


How to cite this review: Aldir Polymeris, "Kader Attia: Die Zukunft liegt in der Vergangenheit", Manazir: Swiss Platform for the Study of Visual Arts, Architecture and Heritage in the MENA Region, published online 10 April 2021, https://www.manazir.art/blog/review-kader-attia-die-zukunft-liegt-der-vergangenheit-aldir-polymeris.