Fragmentierte Erinnerungen einer Stadt
Circle of Confusion von Joana Hadjithomas und Khalil Joreige
Anika Rieben
Was geschieht mit einem Bild, wenn es fragmentiert wird? Verändert sich dadurch die Bedeutung des Bildes? Wird möglicherweise auch die Rolle der betrachtenden Person neu verhandelt?
Im Zentrum dieses Essays steht die im Jahr 1997 entstandene Arbeit Circle of Confusion des Künstler- und Filmemacher-Duos Joana Hadjithomas und Khalil Joreige beleuchtet. Beide wurden 1969 in Beirut, Libanon, geboren und begannen dort ihre künstlerische Karriere. Ihre Arbeiten thematisieren auf vielfältige Art und Weise die Zerstörung und die zugehörige Bilderwelt, die der libanesische Bürgerkrieg (1976–1990) hinterlassen hat (Faitot 1). Hadjithomas & Joreige befragen und hinterfragen die Entstehung von Bildern, Darstellungen und Ideenwelten und deren Zusammenhang mit der Geschichtsschreibung der Region.
Hadjithomas & Joreiges Werke bewegen sich sowohl thematisch als auch formal zwischen Installation, Skulptur, Fotografie, Video, Performance sowie Dokumentar- als auch Spielfilm. Bekannt sind sie unter anderem auch für ihre Langzeitrecherchen zu persönlichen wie auch zu politischen Dokumenten. Somit spielt das Archiv in ihren Werken eine wichtige Rolle (Downey 15). Innert dieser legen sie einen besonderen Fokus auf die Spuren des Nicht-Sichtbaren und der geheim gehaltenen Geschichten. Hierzu gehören beispielsweise das Verschwinden von Personen während des libanesischen Bürgerkrieges oder der architektonische und geologische Untergrund von Städten. Sie untersuchen die Wirksamkeitsmechanismen des Nichtvorhandensein und fragen: Was passiert bei der Entstehung von Bildmaterial und was passiert, wenn es verloren geht („Biography“)?
Der Name der hier besprochenen Installation, Circle of Confusion, ist ein Begriff aus der Fotografie. Der „circle of confusion“oder der im deutschen Sprachgebrauch sogenannte „Zerstreuungskreis“verweist auf die Streuung eines einzelnen Bildpunks, welcher die Schärfentiefe eines Bildes bestimmt. Die Form der Bildpunktstreuung entspricht jeweils der Form der verwendeten Linse (Präkel 56, 85). Die Installation besteht aus 3000 gleich grossen Digitalabzüge, die zusammengesetzt eine Luftaufnahme der Stadt Beirut zeigen. Die Fotos sind auf einem vier auf drei Meter grossen Spiegel angebracht (Naef 150). Jeder Abzug ist auf der Rückseite fortlaufend nummeriert und mit dem Satz „Beirut does not exist“ versehen.
Die im Jahr 1997 entstandene Arbeit Circle of Confusion wurde über die Jahre in verschiedenen Ausstellungen gezeigt. Hierzu gehören beispielsweise das Beirut Exhibition Center (2012) und die Galerie nationale du Jeu de Paume (2016) und. In der Ausstellung wurden die Besucher*innen ermutigt, sich ein Fragment, das sie ansprach, auszusuchen und es zu entfernen. Die Ansicht Beiruts wurde dadurch Stück für Stück aufgelöst. Mit jedem zusätzlichen entfernten Element wurde die dahinterliegende Spiegelfläche weiter freigelegt. Somit wurden auch die Betrachter*innen und die Umgebung, in der das Werk ausgestellt war, im Spiegel und damit im Werk reflektiert. Für welches dieser 3000 puzzleartigen Rechtecke entschieden sich die Besuchenden?
Das Künstlerduo erzählt in der Einleitung zu einem Interview, dass während der Ausstellung ein Besucher den Prozess der sich im Wandel befindenden Installation fotografisch festhielt und die Veränderungen des jeweiligen Tages somit dokumentierte (Hadjthomas et al. 87). Über welchen Zeitraum er diese Dokumentation genau durchführte wird nicht spezifiziert. Auch fotografierte er die einzelnen Abzüge, bevor sie entfernt wurden. Durch seine Dokumentation konnte er eine Statistik erstellen, welche Bildausschnitte am schnellsten verschwanden. Vor allem Grünflächen, Teile des Meeres, alte Häuser und die Strandpromenade waren bei den Ausstellungsbesuchenden sehr beliebt (Hadjithomas et al. 87). Dabei muss angenommen werden, dass die Installation in regelmässigen Abständen wieder vervollständigt wurde und somit nicht dauerhaft als Spiegelfläche verharrte.
Nun stellt sich die Frage, ob die entfernten Bildabzüge durch ihre Entkontextualisierung in der Tat zugleich auch ihre Bedeutung verlieren. Eine Lesart ist, dass die Teile, sobald sie einmal entfernt wurden, durch diese Loslösung aus dem ursprünglichen Bild- und Installationskontext ihre Bedeutung verlieren. Das Künstlerduo sagt hierzu: „Behind the body of the town, the mirror sends us back to our own body. It is impossible to seize Beirut as a whole, we can never hold on to.“ (zit. in Couteau). Aber wenn das ausgewählten Bild für die Person eine persönliche Bedeutung hat, erzählt dann nicht jedes Bild eine neue, ganz individuelle Geschichte, die die Entscheidung zu Entfernung eben genau dieses einen Fragments widerspiegelt? Somit wäre die Bedeutung nicht verloren, sondern multipliziert.
Hierzu schreiben Hadjithomas & Joreige, dass die Ausstellungsbesuchenden auf sich selbst zurückgeworfen werden. Vielleicht finden sie ein Fragment des eigenen einstmaligen Hauses, der ehemaligen Schule oder ein Teil des Meeres, das nur für sie Bedeutung besitzt. Das Fragment an sich bleibt eine Abstraktion und ist somit als blosses Abbild wenig bedeutungsträchtig (Hadjithomas et al. 87). Dies würde auch bedeuten, dass es für die Zugehörigkeit zu einer Stadt und einer Community keine singuläre Definition oder Anschauung gibt, sondern dass alle ihre eigenen Erfahrungen und Gefühle mit einfliessen lassen. In diesem Sinne ist sowohl das Bild als auch die Stadt Beirut in einem Zustand stetiger Veränderungen und kann nie wirklich festgehalten oder definiert werden. „Beirut does not exist“ kann also auch als „no single Beirut exists“ verstanden werden (Naeff 150–151).
Die Installation zeigt eine Stadt, die sich ihrer ganzheitlichen Erfassung, beziehungsweise einer Definition entzieht. Das Werk befindet sich in einem ständigen Wandel, bleibt in Bewegung, genau wie die Stadt selbst. In einem Artikel wird erwähnt, dass das Künstlerduo die Geschichte und die Archive des Libanons ohne jegliche Nostalgie erforscht und sich dabei nicht nur mit der Vergangenheit, sondern auch mit der Gegenwart und Zukunft auseinandersetzt (Faitot 2). Mit Fokus auf der Interaktion des Publikums mit dem Werk, erscheint diese Aussage allerdings eher zweifelhaft. Besonders bei Circle of Confusion tritt durch das In-Erinnerungen-Schwelgen, durch das Suchen nach Bekanntem, nach Elementen, die vielleicht nicht mehr so sind, wie sie es einst waren, oder wie man sich an sie erinnert, ein Moment der Nostalgie zutage.
Das Publikum der Ausstellung in Beirut identifizierte sich mit gewissen architektonischen oder landschaftlichen Bruchstücken und stellten so auch eine Verbindung zu anderen Besucher*innen her. Bezogen auf die Annahme, dass die Fragmente der Luftbildaufnahme regelmässig ersetzt, beziehungsweise vervollständigt werden, bildeten sich im Lauf der Zeit Gruppen von Menschen, die dasselbe Fragment entfernt hatten.
Wenn wir das Werk von Hadjithomas und Joreige nun noch einmal explizit vor dem Hintergrund der sichtbaren Zerstörung nach dem libanesischen Bürgerkrieg betrachten, wird die Verwüstung der Stadt nicht nur durch das Bild selbst repräsentiert, sondern auch durch das Entfernen der einzelnen Teile. Die Besucher*innen nehmen einen Teil des Bildes mit nach Hause und geben ihm eine neue Bedeutung, jedoch löschen sie auch einen Teil des Ganzen aus. So sind wir bei der Betrachtung des Spiegels nicht nur auf unser eigenes Spiegelbild zurückgeworfen, sondern tragen auch Verantwortung an der Zerstörung des Bildes (Naeff 151–152).
Dieser Installation Circle of Confusion folgte im Jahr 2009 die Videoarbeit History of the Circle of Confusion. Diese wurde unter anderem im Juli 2009 im Rahmen des Festival d’Avignon in Frankreich in der Église des Célestins ausgestellt. Es handelt sich dabei um eine Dokumentation des performativen Bildentfernungsprozesses, welcher in Echtzeit wiedergegeben wird. Das zweiminütige Video wird in Originalgrösse auf eine Wand projiziert. Während das Bild bei Circle of Confusion verschwindet, werden in Form des Films neue Bilder kreiert. Das Handeln der Besuchenden hinterlässt nun auf zwei Bildebenen Spuren. Auch hier wäre der Aspekt der Nostalgie als zentraler Punkt für die Arbeit durchaus denkbar. Durch die Videodokumentation der Bilderentfernung entsteht gewissermassen eine zweite Ebene des Festhaltens. Drückt dies nicht auch ein Bedürfnis aus, etwas Veränderliches, oder Vergängliches zu erhalten?
Auf beide Arbeiten bezogen stellt sich die Frage, was mit dem Werk und seiner Wirkung geschieht, wenn es nicht mehr in Beirut, seinem Ursprungsort, ausgestellt wird. 2017 wurde Circle of Confusion beispielsweise im Institut Valencià d'Art Modern in Spanien gezeigt. Der Aspekt von Nostalgie und Zugehörigkeit scheint weniger gegeben zu sein, wenn die Arbeit ausserhalb von Beirut zu sehen ist. Wahrscheinlich auch, weil sich die Motivation zur Auswahl eines Kärtchens verändert. Fragmente werden möglicherweise eher nach ästhetischen Kriterien ausgewählt als nach Orten, zu denen die Besucher*innen eine emotionale Verbindung besitzen. Letztendlich schwingt jedoch in beiden Arbeiten eine nostalgische Note mit. Circle of Confusion gibt dem Betrachter die Gelegenheit, sich auf die Suche nach Altbekanntem zu begeben, während History of the Circle of Confusion stärker den performativen Akt des Sich-Erinnerns festhält.
Referenzen
“Biography.” Webseite des Künstlerduos, https://www.hadjithomasjoreige.com/biography/. Letzter Zugriff 10. April 2021.
Couteau, Jean. “The (De-)Construction of Memory.” MutualArt, no. 3/4, 2009, https://mutualart.com/Article/Joana-Hadjithomas-and-Khalil-Joreige--Th/67C63D6A8D7ED0ED. Letzter Zugriff 9. April 2021.
Downey, Anthony. “Introduction: Contingency, Dissonance and Performativity. Critical Archives and Knowledge Production in Contemporary Art.” Dissonant Archives: Contemporary Visual Culture and Contested Narratives in the Middle East. Edited by Anthony Downey, I.B. Tauris, 2015, pp. 10-41.
Faitot, Julie. “Joana Hadjithomas & Khalil Joreige.” Critique d’art, no. 47, 2016, http://journals.openedition.org/critiquedart/23284. Letzter Zugriff 10. April 2021.
Hadjithomas, Joana and Joreige, Khalil. “Tayyib Rah Farjik Shighli (Ok, I’ll Show You My Work).” Discourse, vol. 24, no. 1, 2002, pp. 85-98.
Naeff, Judith. Precarious Imaginaries of Beirut: A City’s Suspended Now. Palgrave Macmillan, 2018.
Präkel, David. The Visual Dictionary of Photography. AVA Publishing, 2010.
How to cite this essay: Anika Rieben, "Fragmentierte Erinnerungen einer Stadt: Circle of Confusion von Joana Hadjithomas und Khalil Joreige", in Laura Hindelang & Nadia Radwan (eds.), "Nostalgia and Belonging in Art and Architecture from the MENA Region. A Collection of Essays", Manazir: Swiss Platform for the Study of Visual Arts, Architecture and Heritage in the MENA Region, 18 October 2021, https://www.manazir.art/blog/nostalgia-and-belonging-art-and-architecture-mena-region/fragmentierte-erinnerungen-einer-stadt-rieben